
Die Macht der Narrative
„Narrative“. Der Begriff ist zum Buzzword geworden. Sowohl in politischen Diskussionen als auch im Marketing. Aber was bedeutet der Begriff überhaupt? Narrative sind mehr als nur Geschichten – sie sind das Fundament, auf dem Marken, Parteien und ganze Kulturen aufgebaut werden. Sie geben Identität, Emotionen und eine klare Botschaft. Ob in der Werbung, im Wahlkampf oder in der Popkultur – wer ein starkes Narrativ setzt, bestimmt, wie Menschen über ein Thema denken. Wie sie funktionieren, beschreibe ich an drei Beispielen aus unterschiedlichen Bereichen.
Vom Ghetto an die Spitze? –
Das Hiphop-Narrativ
Das Hiphop-Narrativ
Hip-Hop war nie nur Musik – es ist eine Bewegung, ein Versprechen, eine Erfolgsgeschichte. Das Narrativ: „Vom Niemand zum Millionär“ prägt dabei die Kultur und erinnert stark an das amerikanische Narrativ des „American Dream“, der Möglichkeit, sich „vom Tellerwäscher zum Millionär“ emporzuarbeiten.
Das Hip-Hop-Narrativ erzählt ähnlich, von harter Arbeit, Talent und Selbstbestimmung. Es beginnt oft in schwierigen Verhältnissen – Armut, Gewalt, Chancenlosigkeit – und führt zu Ruhm, Reichtum und Macht. Kaum eine andere Musikrichtung hat so viele Künstler*innen hervorgebracht, die ihre eigene Erfolgsgeschichte in den Mittelpunkt stellen: Sei es Jay-Z, der vom Crack-Dealer zum milliardenschweren Unternehmer wurde, oder Eminem, der als weißer Außenseiter neue Maßstäbe im Genre setze. Auch in Deutschland gibt es viele Künstler*innen, die damit spielen. Mehr oder weniger übersetzt wurde das Narrativ von Bushido mit dem Album-Titel „Vom Bordstein bis zur Skyline“.

Aber warum funktioniert das Hip-Hop-Narrativ so gut? Kurz: Es ist die ultimative Heldengeschichte. Es verspricht, dass jeder es schaffen kann – unabhängig von Herkunft oder Bildung. Besonders für marginalisierte Gruppen wird Hip-Hop dadurch zur Plattform, die nicht von traditionellen Gatekeepern kontrolliert wird. Und natürlich ist es gleichzeitig ein perfektes Marketinginstrument. Marken wie Nike, Adidas und Red Bull nutzen die Hip-Hop-Kultur für ihre eigenen Aussagen: „Unsere Produkte stehen für Erfolg, Hustle und Authentizität“.
Aber, wie so oft ist auch hier das Narrativ nur eine Seite der Medaille. Denn die Wahrheit ist, nicht jeder schafft es. Die meisten Rapper*innen bleiben unbekannt, und für jeden erfolgreichen Künstler*innen gibt es Tausende, die nie von ihrer Musik leben können. Dazu kommt: Das Aufstiegs-Narrativ blendet oft aus, dass systemische Probleme nicht durch Talent allein überwunden werden. Und: Trotzdem, dass Hip-Hop auch Sprache der Schwachen ist, fördert es eine problematische Vorstellung von Erfolg – Geld, Autos, Statussymbole. Wer es nicht „geschafft“ hat, hat nicht hart genug gearbeitet – so die unterschwellige Botschaft. Ganz abgesehen davon findet im Subgenre Gangsterrap oft auch die Diffamierung „Schwächerer“ wie Frauen oder Homosexuellen statt.
Fazit: Das Hip-Hop-Narrativ ist eine extrem kraftvolle Aufstiegsgeschichte, aber es vereinfacht – wie eigentlich jedes Narrativ – die Realität. Es inspiriert, doch es kann auch falsche Hoffnungen wecken.

„Make America Great Again“ –
Das Trump-Narrativ
Das Trump-Narrativ
Kaum ein politisches Narrativ der letzten Jahre war so einflussreich wie Donald Trumps „Make America Great Again“ (MAGA). Es erzählt die Geschichte eines verlorenen Amerikas, das einst stark und erfolgreich war, aber durch Globalisierung, Migration und politische Eliten geschwächt wurde.
Die zentrale Botschaft lautet: „Amerika war einst eine stolze Nation, aber wir haben es verloren – und ich bringe es zurück.“
Warum funktioniert dieses Narrativ? MAGA ist ein perfektes politisches Narrativ, weil es drei wichtige Elemente enthält: Zunächst erzählt es von einer glorreichen Vergangenheit. Dafür beschreibt Trump eine Zeit, in der Amerika wirtschaftlich stark, kulturell gefestigt und international dominant war. Diese Vergangenheit ist oft unkonkret. Aber genau das macht sie für alle anschlussfähig. Jeder kann für sich überlegen, was in der „guten alten Zeit“ besser war. Dabei nutzt Trump die menschliche Eigenschaft, die Vergangenheit oft zu verklären.
Danach braucht es natürlich einen Schuldigen für den Abwärtstrend. Oder am besten mehrere. In Trumps Narrativ sind das wahlweise „die Eliten“, „die Medien“, „illegale Einwanderer“ oder andere politische Gegner, oft die Demokraten oder auch aus den eigenen Reihen. Sie haben Amerika geschwächt. Diese Feindbilder verstärken das Gefühl der Bedrohung und erzeugen Zusammenhalt unter den MAGA-Anhängern. Kurz: Ein Feindbild schweißt zusammen.
Und zu guter Letzt braucht es einen Retter. Das ist natürlich Trump selbst. Dafür inszeniert er sich als Außenseiter, der das korrupte System aufmischt und „den Sumpf trockenlegt“. Er ist derjenige, der das Land retten kann – und wer ihm folgt, wird Teil dieser historischen Mission.
Dieses Narrativ ist extrem emotional und leicht verständlich. Es spricht besonders Menschen an, die sich von der modernen Entwicklung abgehängt fühlen – sei es wirtschaftlich, kulturell oder politisch. Während klassische, konservative Narrative oft abstrakt über Wirtschaft oder Verteidigung sprechen, ist MAGA ein persönlicher (Kultur-)Kampf um Identität und Zugehörigkeit.
Aber auch dieses Narrativ hat eine Kehrseite. Denn das MAGA-Narrativ hat eine enorme politische Sprengkraft. Es unterteilt die Gesellschaft in Lager. In schwarz und weiß. In Patrioten und Feinde des Landes. Und das funktioniert, wenn man seine Anhänger*innen hinter sich bringen will. Ähnlich hat es Bush schon vor ihm nach dem 9/11 gesagt, frei zitiert: „Entweder stehst du auf unserer Seite oder auf der der Terroristen.“
Kritiker*innen sehen in diesem Schwarz-Weiß-Denken von Trump eine gefährliche Vereinfachung komplexer Probleme und eine bewusste Polarisierung, die zu gesellschaftlicher Spaltung führt. Zudem ist das Versprechen, zu einer idealisierten Vergangenheit zurückzukehren, oft unrealistisch – viele wirtschaftliche und soziale Entwicklungen lassen sich nicht einfach zurückdrehen.
Born to be wild
Das Harley-Davidson-Narrativ
Das Harley-Davidson-Narrativ
Fazit: Trumps „Make America Great Again“ ist ein Lehrbuchbeispiel für ein starkes Narrativ: einfach, emotional und anschlussfähig. Doch seine Wirkung beruht auf Abgrenzung und Spaltung – und das macht es zugleich gefährlich und politisch explosiv.
Eine Marketingweisheit lautet: Du kaufst kein Produkt, sondern du kaufst das Gefühl, das du damit verbindest. Egal, wie man zu dieser Aussage steht, Harley-Davidson hat es mit dieser Strategie zum Weltkonzern geschafft. Denn Harley verkauft keine Motorräder – es verkauft Identität. Keine andere Marke verkauft den amerikanischen Mythos von Freiheit und Selbstbestimmung mehr als Harley-Davidson. Die zentrale Botschaft lautet: „Live to ride. Ride to live.“
Kurz, wer eine Harley fährt, entscheidet sich nicht nur für ein Fortbewegungsmittel, sondern für ein Lebensgefühl: Unabhängigkeit, Rebellion, Abenteuer, Männlichkeit. Es ist das Narrativ des einsamen Reiters – der modernen Cowboy-Figur, die keine Regeln braucht und ihren eigenen Weg geht.

Dieses Bild wird nicht nur durch Werbung transportiert, sondern durch Jahrzehnte amerikanischer Popkultur mitgeprägt, von „Easy Rider“ über Bruce Springsteen bis zu Tattoo-Kultur und Biker-Treffen. Harley ist mehr als Marke – Harley ist Mythos.
Dabei funktioniert das Narrativ sowohl individuell als auch gemeinschaftlich: Einerseits inszeniert es die absolute Unabhängigkeit, andererseits stiftet es intensive Zugehörigkeit. Die „Harley Owners Group“ (HOG) ist ist ein globales Netzwerk Gleichgesinnter mit eigenen Ritualen, Patches, Codes. Wer dazugehört, zeigt das – auf der Weste, am Motorrad, im Selbstbild.
Harley nutzt dieses kulturelle Kapital konsequent – vom Design der Maschinen über Sound und Merch bis hin zu Events. Logisch, denn wer eine Harley fährt, fährt sie mit Haltung.
Doch wie jeder Mythos kommt auch dieser in die Jahre. Die Zielgruppe altert, junge Käufer fehlen. Das Image ist stark maskulin geprägt – Frauen, Diversität oder neue Lebensentwürfe haben in der Erzählung wenig Platz. Auch die Umweltdebatte macht der Marke zu schaffen: Laut, schwer, durstig – das passt nicht in die Logik einer emissionsarmen Zukunft. Der Versuch mit der E-Harley „LiveWire“ bleibt ein Spagat: zu leise für die Fans, zu laut für den Wandel.
Harley-Davidson zeigt, wie aus einem Produkt ein kultureller Mythos werden kann. Doch genau diese Stärke macht es schwer, sich neu zu erfinden. Das Narrativ ist mächtig – aber zugleich schwer zu modernisieren.
Was können wir aus Narrativen lernen
Ob Hip-Hop, Trump oder Harley – starke Narrative funktionieren, weil sie uns einfache Antworten auf komplexe Fragen geben. Sie liefern Orientierung, stiften Identität und erzeugen Zugehörigkeit. Aber sie verkürzen, verzerren und lassen oft wenig Raum für Grautöne. Sie geben Halt und schaffen oft gleichzeitig ein Feindbild. Sie versprechen, Teil einer Gruppe zu sein, verlangen dafür aber absolute Loyalität. Sie begeistern und reißen mit, aber sie vereinnahmen auch.
Narrative funktionieren, weil sie etwas bieten, das Fakten selten leisten: eine einfache Wahrheit. Oder zumindest das Gefühl, sie gefunden zu haben. In einer Welt voller Komplexität, Unsicherheit und Mehrdeutigkeit sind Narrative wie Anker – sie machen das Unfassbare greifbar. Doch wer kommuniziert, trägt Verantwortung. Denn jede Geschichte, die wir erzählen, formt die Welt, in der wir leben. Zum Besseren oder Schlechteren.